Der Dresdner Theologe Franz Richter stellte im Januar 2018 in der Sächsischen Zeitung fest: "Zwei Voraussetzungen für eine offene, demokratische Gesellschaft sind Empathie und Perspektivenwechsel. Es soll eine Lust und keine Last sein, sich in andere Menschen hineinzuversetzen." In diesem Zusammenhang lohnt es sich einen Blick in die weite Vergangenheit zu werfen:
Abraham-Hyacinthe Anquetil-Duperron im 18. Jahrhundert war der erste, der entdeckte, dass die Menschheit Mitte des ersten Jahrhunderts vor Christus an mehreren Orten der Welt gleichzeitig einen gewaltigen Entwicklungsschritt durchmachte. Karl Jaspers gab dieser Epoche den Namen "Achsenzeit". Jan Assmann (2018) und vor allem Karen Armstrong (2006) heben es in ihren großartigen Monografien hervor, dass Empathie damals zu einem der wichtigsten Maßstäbe der Spiritualität, der menschliche Moral und zur Grundlage der großen Weltreligionen sowie der griechischen Philosophie wurde. Nehmen wir als Beispiel "Die Perser" von Aischylos: Acht Jahre, nachdem 480 vor Christus die Perser Athen geplündert, niedergebrannt und im Anschluss eine tödliche Niederlage in der Seeschlacht bei Salamis erlitten hatten, führte der griechische Dramatiker in Athen seine Tragödie auf, die die Schlacht aus der Sicht der Perser sehen ließ. "Erst ein paar Jahre zuvor hatten die Perser ihre Stadt in Schutt und Asche gelegt und ihre heiligen Stätten entweiht, und doch konnten sie jetzt um die persischen Toten weinen", schreibt Armstrong.
Warum muss uns Franz Richter zweieinhalb Jahrtausende später daran erinnern? Ist uns diese grundlegende menschliche Fähigkeit in der "Gesellschaft der Singularitäten" (Andreas Reckwitz) abhanden gekommen? Melanie Mühl widmet der Fragestellung ein ganzes Buch ("Mitfühlen", 2018) und beklagt den "Niedergang des Mitgefühls, die soziale Verrohung", den vorherrschenden "unversöhnlichen, polemischen Ton" und stellt fest: "Mitgefühl ist die Grundlage einer gelingenden sozialen Kultur. Sie ist das Bindemittel. Ohne Mitgefühl kein Miteinander." Amos Oz erzählt in seinem Essay "Liebe Fanatiker" die Geschichte vom israelischen Schriftsteller Sami Michael mit einem Taxifahrer, der bei ihm mit fanatischer Begeisterung für die Tötung von Arabern warb und wie es dem Schriftsteller gelang, mit einer persönlichen Geschichte das Mitgefühl des Fahrers zu mobilisieren und seine Überzeugung ins Wanken zu bringen. Genau das wollen wir hier auch erreichen: Die hinter den Statistiken der Nachrichten steckenden Schicksale sollen auf unseren Seiten persönlich erlebbar werden, damit "das Bindemittel" unseres sozialen Miteinanders wieder besser wirkt.