Interkulturelles Magazin des Haus International

Ich habe eines Tages nur kurz unser Haus verlassen, um nach meiner Mutter zu schauen, die Holz holen wollte. Der Imam der Moschee hat mich gesehen und zu einem ca. 50-jährigen Mann gesagt: „Schau, die Familie hat ein Mädchen.“ Daraufhin hat mich dieser Mann verfolgt und ständig beobachtet. Er ging zu meinem Vater und wollte mich zwecks Heirat mitnehmen. Wir Mädchen werden sehr früh verheiratet, schon als Kinder müssen wir alte Männer heiraten und ihnen zu Willen sein. Wir werden vergewaltigt und grausamst missbraucht. Meine Freundin hat schon mit 11 Jahren ein Kind bekommen, hat es dann dem Ehemann überantwortet und sich selber umgebracht. 

Wenn die Familien ihre Mädchen nicht zur Heirat herausgeben, werden die Brüder von den Taliban entführt, und es werden ihnen Gürtel mit Sprengstoff angelegt. Es wird den jungen Männern eingeredet, dass, wenn dieser Sprengstoffgürtel an einem bestimmten Ort explodiert, sie sofort zu Engeln werden, die an der Seite Gottes sitzen. Dieser alte Mann, der mich heiraten wollte, drohte meinem Vater, falls er der Heirat nicht zustimme, seine beiden Söhne entführen zu lassen und in den Krieg zu schicken.

 

Mein Vater hat glücklicherweise trotzdem „nein“ gesagt. Wir haben viel gebetet. Es war eine schreckliche Zeit. Meine Tante war in dieser Zeit Lehrerin und hat in unserem Hause Mädchen, die in unserem Land laut Gesetz nicht lernen dürfen, unterrichtet. Als sie am nächsten Tag ein Mädchen zum Unterricht abgeholt hat, wurde sie ermordet. Ich hatte noch eine weitere Tante, die daraufhin den Unterricht weiterführte. Der Imam warnte sie und sagte: „Kein Mädchen soll unterrichtet werden“. Stattdessen solle sie sich verstecken. Sie hat aber trotzdem den Unterricht heimlich weitergeführt. Daraufhin wurde ihr Mann ermordet. 

Mein Vater konnte es nicht mehr mit ansehen. Er sagte eines Tages unvermittelt zu uns: „Ihr müsst hier alle weg. Ich bleibe noch hier, bis ihr das Land verlassen habt, werde Heiratspläne mit dem alten Mann schmieden und einfach so tun, als wäret ihr alle noch da.“ In der darauffolgenden Nacht sind wir zu meiner Tante gegangen, die einen Schlepper kannte, der uns für ca. 10.000 € pro Person nach Deutschland bringen sollte. Natürlich hatten wir nicht so viel Geld gespart. Wir verkauften also alle unsere Sachen, und die Nachbarn unserer gesamten Straße beteiligten sich und gaben uns Geld.

 

Ich bin dann nachts eingeschlafen und plötzlich aufgewacht, als meine Mutter sagte: „Wir gehen jetzt los, der Schlepper bringt uns nach Deutschland.“ Sofort war ich hellwach, und wir machten uns auf den langen Weg. Meine 3 Schwestern, 2 Brüder, meine Mutter und ich verließen die Heimat, um zunächst einmal in den Iran zu gelangen. Wir liefen 3 Monate zu Fuß, immer nur nachts, weil die Polizei das Gebirge am Tage streng bewacht. Unterwegs habe ich viele tote Menschen gesehen, alte und junge, die Augen weit aufgerissen, und alle waren sie zu Eis erstarrt. Es war alles so schrecklich, zumal wir auch nicht wussten, was auf uns zukommt. Ich habe immer wieder gedacht: „Das ist das Ende meines Lebens.“

Irgendwann schrie meine Mutter: „Lauf weiter, immer weiter, soweit du kannst, bis nach Deutschland.“ Ich drehte mich um und erschrak sehr, weil ich meine Mutter nicht mehr sehen konnte. In diesem Augenblick schrie der Schlepper: „Runter mit euch, alle auf den Boden, die iranische Polizei schießt.“

Panikartig ließen wir uns zu Boden fallen, aber ich wollte meine Mutter suchen und stand wieder auf. Eine Kugel flog an meinem Ohr vorbei und erzeugte dabei einen derartigen Knall, dass mein Trommelfell platzte. Ich konnte nichts mehr hören, mir war schwindelig und ich blutete.  

All das war nicht so wichtig für mich, ich drehte mich um und sah nur meine Geschwister, ohne meine Mutter. „Wo ist Mama?!“, schrie ich. Wir fanden sie am Boden liegend, sie hatte schon immer Herzprobleme, und jetzt schlug ihr Herz nicht mehr. Aber ein Wunder geschah, der Schlepper reanimierte meine Mutter, und nach kurzer Zeit ist sie wieder mit uns weitergelaufen. Wir brauchten dringend ein Pferd für meine Mutter und meine kleine Schwester. Schnell fanden wir eins, es war aber sehr müde und bäumte sich bei einem Schuss der Polizei auf. Dabei fiel meine Schwester herunter, sie saß hinter meiner Mutter, und rollte unglücklicherweise weit den Berg hinunter. Meine Mutter wollte sie natürlich sofort suchen: „Entweder gehen wir alle, oder keiner.“ Der Schlepper wollte die Suche verhindern, indem er meinte: „Jetzt lasst sie, entweder wird sie vergewaltigt oder sie ist jetzt schon tot.“ Daraufhin fingen unsere Brüder eine Schlägerei mit dem Schlepper an. Dieser zückte ein Messer und drohte meinen Brüdern, dass er sie beim nächsten Mal umbringen würde. Meine Brüder haben sich aber trotzdem auf die Suche gemacht, meine Schwester gefunden und mit zerschmettertem Knie und Ellbogen wieder zu uns gebracht. Sie konnte nicht mehr reden. 

Wahrscheinlich hatte sie einen Schock, da sie einen Tag und eine lange Nacht allein zugebracht hatte, ehe meine Brüder sie fanden. 

Am Ende des Gebirges angekommen, warteten Busse auf uns. Wir waren ca. 200 Menschen und alle mussten in den Bus passen. Dicht aneinander gequetscht saßen oder standen wir in den Bussen. Meine Schwester konnte nichts mehr sprechen oder hören. Sie schrie nur. Zu allem Übel überraschte sie zum allerersten Mal das, was bei jeder Frau normal ist, ihre Regel. Beim Anblick des Blutes schrie sie wieder so laut, dass der Schlepper drohte, sie umzubringen und stieß sie aus dem Bus. Meine Mutter weinte sehr und flehte die inzwischen angekommene Polizei an: „Sie ist doch auch ein Mensch, bitte, gebt mir meine Tochter wieder.“ Letztendlich durften meine Brüder sie wieder zu uns holen. 

Wir wurden dann für 3 Tage in ein gutes Haus gebracht, wo man uns zu essen gegeben hat und wir uns waschen durften. Dann ging es zu Fuß weiter in die Türkei. Der Schlepper begleitete uns wieder und erklärte der Polizei an der Grenze, wir seien normale Kunden von ihm, worauf man uns passieren ließ.

Wir liefen quer durch die ganze Türkei, bis an die Küste, von der aus man in einem Gummiboot, vollbesetzt mit ca. 50 Personen, in See stach, um die Küste Griechenlands auf der anderen Seite des Wassers zu erreichen. Vor der Überfahrt ereigneten sich aber noch schreckliche Dinge. Zunächst mussten wir, damit alle Platz finden, unser gesamtes Gepäck, einschließlich unserer Winterkleidung, wegschmeißen. Das Boot war sehr klein, und eine im 9. Monat schwangere Frau bekam plötzlich starke Schmerzen und schrie immer wieder voller Panik: „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr weitergehen, möchte meinen Kopf einmal wieder auf ein Kissen legen, möchte frühstücken und normal leben.“ Kurz danach ließ sie sich aus dem Boot ins Wasser fallen. Sie hat, wahrscheinlich durch ihre Panikattacke die Geburt ihrer Kinder (sie bekam Zwillinge) ausgelöst und unfreiwillig im Wasser geboren. Das Wasser war voller Blut, alle 3 starben vor unseren Augen. Eines der beiden Babys konnten wir sehen. Es war schon tot und trieb auf dem Wasser. Das andere Kind und die arme Frau hat das Wasser fortgetragen. 

In Griechenland angekommen, sind wir 2 Nächte lang irgendwo auf einen hohen Berg gestiegen. Ganz oben befanden sich viele Menschen, die uns mit Essen und Kleidung halfen. Wir wurden in einem Zeltlager zum Schlafen untergebracht. Es befanden sich dort oben ca. 2000 Menschen, die allesamt in einer langen Schlange anstanden, um einen Passierschein nach Mazedonien zu bekommen. Ohne diesen Schein wäre man zurückgeschickt worden. Es dauerte ungefähr eine Woche, bis auch wir im Besitz dieses Scheines waren. 

Mit dem Zug begannen wir die Reise nach Mazedonien. Wir standen dicht gedrängt in diesem außerordentlich schmutzigen Zug. Im Kosovo wurde die Reise unterbrochen, und die Polizei schoss auf jeden, der den Zug verlassen wollte. 

Irgendwann kamen wir in München an. Hier geschah etwas Außergewöhnliches: In Afghanistan haben die Brüder das Recht, über die Schwestern zu bestimmen, z. B., ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht, mit wem sie reden dürfen, was sie anziehen usw., sie bestimmen einfach über alles und es ist ihnen sogar erlaubt, uns zu schlagen. Hier in München haben meine Brüder nun zu uns 4 Schwestern gesagt: „Ihr seid ab sofort frei! Ihr könnt tun und lassen, was ihr wollt. Wir leben jetzt in einem anderen Land, in einer anderen Kultur.“

Und das war richtig. Ich konnte es nicht glauben, was ich hier alles erleben durfte. Es gab Essen und zu trinken, soviel wir brauchten, es gab Menschen, die sich um uns kümmerten, ich hörte das erste Mal in meinem Leben Musik. Die Menschen tanzten zu der Musik und forderten mich ebenfalls dazu auf. Auf dem Marienplatz konnte ich Menschen sehen, die sich umarmten und küssten. Meine Mutter hielt uns die Augen zu und sagte: „Das dürft ihr nicht sehen. Das ist nicht gut für euch, ihr seid zu klein.“ 

Irgendwann hat uns die Polizei gefunden. Da wir keinen Ausweis hatten, kamen wir in die Bayern-Kaserne. Dort blieben wir 8 Monate, bis wir eine Wohnung fanden und lebten hier ca. ein Jahr lang sehr glücklich, ich ging in die Schule und lernte sehr viel, hatte Freunde und war unendlich frei.

Doch dann, ganz plötzlich stürzte die Welt für mich ein. Meine Mutter erklärte mir, dass ich eigentlich gar nicht zu dieser Familie gehöre. Meine Mutter war meine Tante! Meine leibliche Mutter starb, als ich noch nicht einmal 3 Jahre alt war. Mein Vater lehnte mich ab und wollte mich nicht haben, und so hat mich die Schwester meiner Mutter in ihre Familie aufgenommen. 

Diese Offenbarung versetzte mir einen derartigen Schock, dass ich schlagartig sehr starke Kopfschmerzen hatte, die Wohnung verließ und auf der Straße die Besinnung verlor. Meine Nase blutete stark, und ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Ich bekam sehr große psychische Probleme, die sich noch verschlimmerten, als ich erfuhr, dass „meine Familie“ das Sorgerecht für mich nicht bekam. Mir wurde vom Jugendamt ein Vormund zugewiesen. Dieser Vormund erwirkte meine Einweisung in das Schwabinger Krankenhaus auf die psychiatrische Station. Mir wurde gesagt, hier müsse ich mindestens drei Monate bleiben. 

Ich wollte nicht mehr weiterleben. lieber sterben. Ich wäre so gern bei „meiner Familie“ geblieben, wir waren doch jetzt so glücklich. Alles war gut. Warum hat „Mama“, oder die Tante, die ich bisher für Mama gehalten habe, mir das alles nicht früher erzählt. Ich war unendlich traurig und habe sehr viel geweint. Jeden Tag wollte ich mit „Mama“ reden, durfte es aber nicht. Das machte mich sehr böse und aggressiv. Jeden, der in meine Nähe kam, wollte ich schlagen oder beißen. Ich wollte nicht mehr leben! 

Nach ungefähr einem halben Jahr hat man glücklicherweise ein gutes Zuhause für mich gefunden. Ich kam nach Kempten und mein Leben normalisierte sich wieder. Ich beruhigte mich, war wieder zugänglich, man konnte wieder gut mit mir reden, ich durfte in die Schule gehen, an vielen Aktivitäten teilnehmen, und, sehr wichtig, ich durfte meine „Mama“ besuchen. Alles war wieder gut.

Heute bin ich 17 Jahre alt und muss rückblickend sagen, dass ich keine schöne Kindheit hatte.

Ich wünsche mir von Herzen, irgendwann einmal, eine eigene Familie zu haben. Ich möchte Kinder haben, die glücklich sind und Kind sein dürfen. Ich möchte einen Beruf ausüben, der mich glücklich macht, und der es mir ermöglicht, meinen Kindern viele Wünsche und Träume zu erfüllen. 

Darauf freue ich mich schon heute.