Vielmehr hatte ich in dem Moment, als ich in diesem Allgäuer Dorf herzlich empfangen wurde und erstmals, seitdem ich mich in Damaskus von meiner Familie verabschiedet hatte, mich sicher fühlte, die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was mir in diesem Leben tatsächlich zustieß. Was ist mir eigentlich zugestoßen? Ich habe mein Land unverschuldeter Weise verlassen und auch meine Eltern zurücklassen müssen, hatte einen gefährlichen Weg angetreten, bei dem die Wahrscheinlichkeit, diesen zu überstehen oder schier zu überleben nicht wirklich groß gewesen ist. Ich bin in ein gänzlich fremdes Land gekommen, dessen Sprache ich nicht mächtig war und dessen Kultur ich überhaupt nicht kannte. Auf einmal empfand ich die Geschichte meiner Flucht weniger dramatisch, als das Bewusstwerden der damaligen Situation, und das geht mir bis heute nach: Ich habe erkannt, dass ich mich dieser Welt nicht zugehörig fühlte, hier keiner organisierten Struktur angehörte, also, auch wenn ich dieses Wort nicht mag, im Endeffekt mich als „entfremdet“ bezeichnen konnte.
Ich versuche, dieses Gefühl genauer zu beschreiben. Es ist offensichtlich, dass nur jene ein solches Gefühl nachempfinden und in Worte fassen können, die davon bereits heimgesucht wurden. Dies war bei mir durchaus der Fall, dennoch brachte ich es damals immer noch nicht fertig, diesen Gefühlszustand derart darzulegen, dass dies der Wirklichkeit angemessen gewesen wäre. Ich suchte verzweifelt nach einer Erklärung und versuchte zunächst in der arabischen Literatur Hilfestellung zu bekommen. Das ist wahrscheinlich für jeden, der philosophisch interessiert ist und aus dem fantastischen Orient stammt, naheliegend. Aber zu meiner Enttäuschung habe ich dort nichts Adäquates gefunden! Bald begann ich einen Sprachkurs und fing an, mich für die deutsche Sprache zu erwärmen, in der Hoffnung, mein ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis dadurch befriedigen zu können. Diese Hoffnung habe sich bereits erfüllt, behaupten mindestens meine Freunde. Der deutschen Sprache habe ich jedoch auch etwas Wichtigeres zu verdanken: Sie ermöglichte mir das Erkennen und das Formulieren dessen, wonach ich seit meiner Ankunft in Deutschland suchte.
Der Zufall wollte es: Eines Abends verfolgte ich das Weltgeschehen im Internet und durch einen Beitrag inspiriert gab ich dabei das Stichwort „Flüchtlinge“ ein. Ich nahm an, dass auf dem Bildschirm neue Bildungsangebote, Integrationsmaßnahmen, aber auch verschärfte Gesetze oder Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit der Flüchtlingsthematik angezeigt würden. Überraschender Weise stieß ich jedoch auf einen Artikel, der in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde, mit dem Titel „Sie haben ihren Alltag und ihre Sprache verloren“. Ich wurde durch diese Überschrift in dem Maße angesprochen, dass ich den Artikel trotz sprachlicher Schwierigkeiten mehrmals durchgelesen habe. Und wie oft ich ihn durchlas, lässt sich nicht mehr sagen!
Bei der Lektüre erkannte ich schnell meine Gedanken wieder, die ich bis jetzt außerstande war zu artikulieren; ich fand plötzlich Antworten auf die Fragen, die sich immer noch in meinem Hinterkopf bewegten. Die Autorin Hannah Arendt schrieb mir in dem Maße aus der Seele, dass ich kaum erwarten konnte, mehr über sie und über das Werk dieser faszinierenden Autorin zu erfahren. Als erstes habe ich mir das renommierte Interview angeschaut, bei dem sie gleich zu Beginn dem wohl versierten, aber dennoch irritierten Günter Gaus gegenüber behauptete, dass sie zwar Philosophie studiert habe, sich jedoch nicht als Philosophin betrachte. Diese Antwort brachte mich völlig aus dem Konzept; mein Interesse für diese Persönlichkeit war sofort geweckt! Was ist das für eine Frau, die mit 14 Jahren Kant und Jaspers las! Eine Jüdin, die als Nebenfach evangelische Theologie und Griechisch wählte! Griechisch, sagte sie beschämt, habe sie aus Faulheit belegt, weil sie die Sprache bereits beherrschte. Ich war beeindruckt von dieser Jüdin, die in vielen Kontexten bewusst für sich reklamierte, jüdisch zu sein; und gleichzeitig erklärte von Haus aus nicht gewusst zu haben, eine Jüdin zu sein. Sie zog mich in ihren Bann, diese Philosophin, die „das Problem der deutschjüdischen Assimilation“ anhand der Biographie Rahel Varnhagens thematisierte und folgender Weise kommentierte: „Rahel Varnhagen beschreibt mit diesem Rückblick auf ihr individuelles Schicksal zugleich die Geschichte der Juden in Deutschland: die Geschichte einer gescheiterten Assimilation!“
Hannah Arendt sagte immer direkt, was sie erkannt zu haben glaubte, egal, wie viele Feinde diese Aussagen ihr bescherten; sie stand zu ihrer Meinung auch dann, wenn diese den Interessen jüdischer Organisationen zuwiderlief und dementsprechend deswegen ihr absurder Weise Judenhass unterstellt wurde.
Da ich selber aus einem Land floh, dessen Bevölkerung alle Grausamkeiten eines Krieges erleiden musste und auch noch heute darunter leidet, finde ich die Schriften Arendts über die Verantwortlichen, also über die Täter, besonders aufschlussreich und noch immer gültig. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre These über die „Banalität des Bösen“, die sie anhand des Beispiels von Eichmann aufstellte. Durch die Beschreibung dieses neuen Tätertyps wollte sie keineswegs die Nazis entschuldigen, sondern ihre Zeitgenossen auf die Gefahr aufmerksam machen, dass man bei der Beurteilung der Täter nicht mehr mit den alten Erklärungsmustern arbeiten kann.
Um zum Wesentlichen zu kommen: Ich habe durch die Beschäftigung mit Arendt Antworten auf viele Fragen erhalten. Das Phänomen der Verlassenheit, von dem ich mich durchdrungen glaube, hat sie tiefgehend untersucht. Außerdem analysierte sie das Gefühl des Weltverlustes, der sich bei mir in der Form darstellte, dass ich mich nach meiner Flucht in einer bestehenden Ordnung wiederfand, in der ich mich ausgeschlossen fühlte. Gleichzeitig sah ich mich mit dem Problem konfrontiert, keinen Standort in dieser für mich neuen Welt zu finden. Die Standortlosigkeit geht in der Regel mit einem Identitätsverlust einher und ist insofern sozial und politisch, aber nicht geographisch aufzufassen. Das spezifisch Menschliche beschreibt Arendt in der Fähigkeit zu sprechen, was der Mensch verliert, wenn er aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Der Zugang zur Gemeinschaft bleibt konsequenter Weise demjenigen verwehrt, der der Sprache nicht mächtig ist. Der Mensch verstummt oder lebt abseits der bestehenden Gesellschaft und findet sich unverschuldet, von jeglicher Gemeinschaft isoliert, wieder.
Ohne die Beschäftigung mit Arendts Werken wäre ich nicht in der Lage, das, was mir und auch vielen anderen widerfuhr, in Worte zu fassen. Durch die Auseinandersetzung mit ihren Schriften wie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, „Vita activa“ oder vom tätigen Leben“ und „Eichmann-Prozess“ offenbaren sich für mich neue Denkhorizonte. Hannah Arendt ist aktueller denn je!