Rede Pfarrer Öder

Rede von Pfarrer Öder bei der Kundgebung für die Rechte der Asylbewerber in Kempten am 13. Januar 1990

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,


seit wenigen Wochen ist die Grenze, die Deutschland durchzieht, sehr durchlässig geworden. Der Jubel auf beiden Seiten war groß. Und seit die Mauer am Brandenburger Tor geöffnet, besetzt und durchlöchert wurde, kannte die Freude keine Grenzen mehr. Eine sichtbare Mauer wird geschleift, ein Symbol für Willkür und Trennung, für Unmenschlichkeit und Gewalt. Wir tragen tief in uns die Sehnsucht nach Freiheit, nach Überwindung aller Mauern, die trennen.


Wie kommt es dann aber, dass wir die Mauern nicht wahrnehmen, die wir im nächsten Bereich um uns selber ziehen? | Was uns fremd erscheint, das grenzen wir nach Möglichkeit aus unserem Lebensbereich völlig aus. Die Asylbewerber, für deren Rechte wir mit dieser Demonstration eintreten, haben darunter am meisten zu leiden.


Wir ziehen Mauern um unsere Wohnungen, Häuser und Wohnviertel und verpflichten die Bewerber zum Aufenthalt in Sammelunterkünften. Wir ziehen Mauern um unsere Läden und Geschäfte und schicken den Fremden Lebensmittelpakete – jede Woche dasselbe. Wir ziehen Mauern um unsere Arbeitsstätten und verbieten schlichtweg Arbeit für jeden, der als Asylant noch nicht anerkannt ist. Wir halten die Fremden wie Kriminelle in dem Gebiet fest, dem sie zugewiesen sind. Wir zermürben sie durch eine teilweise über Jahre sich hinschleppende Bearbeitung ihrer Anträge.   


Viele in diesem Land, die über den Bruch der Berliner Mauer jubeln, nehmen die unsichtbaren Mauern gegenüber Fremden nicht wahr oder möchten sie gar noch verstärken. Menschen, die sich an Christus orientieren, oder die sich christlichem Gedankengut verpflichtet wissen, sie könnten Anderes lernen von Jesus Christus. Die Evangelien sind randvoll von Berichten, wie Jesus Mauern durchbrach. Unsichtbare Mauern, die die Selbstgerechten und Starken um Schwache, Fremde, scheinbar Bedrohliche gezogen hatten. Jesus Christus ging zu Zöllnern und Sündern, zu Aussätzigen und Besessenen, zu Frauen und Kindern, zu samaritanischen und römischen Fremden. Er missachtete die Mauern aus Angst und Abwehr und teilte mit den Bedürftigen sein göttliches Leben.   


Warum fällt es uns so schwer, Gleiches zu tun? Aber, so höre ich den Einwand, wir kümmern uns doch um Menschen, die Hilfe brauchen. Unser Land ist voll davon, von Menschen an und unter der Armutsgrenze, von Behinderten, von Arbeitslosen. Wir haben genug damit zu tun, für sie zu sorgen. Was wollen dann auch noch die Fremden bei uns? Wir haben sie nicht gerufen!   


Not muss nicht gerufen werden. Not ist da und treibt Menschen in die Fremde. Not veranlasst Menschen, ihre Heimat, ihre kulturelle und religiöse Umgebung zu verlassen, Not trennt Söhne und Töchter von Eltern, Freunde von Freunden, reißt Liebenden auseinander. Es ist nicht Lust und Laune, es ist die Gefährdung an Leib und Leben, die Menschen veranlasst, ins Ungewisse, in die Einsamkeit, in das Verachtetwerden hinein aufzubrechen.   


Die Bibel jedenfalls weiß: Solange diese Erde besteht, werden Menschen immer wieder gezwungen sein, ihre Heimat zu verlassen und in fremdem Land als Fremde zu leben. Die den Christen bekannteste Familie sind Josef, Maria und das Kind. Sie sind nicht geflohen, weil sie an Aufständen gegen den König teilgenommen hätten. Sie sind geflohen, weil sie um das Leben des Kindes bangten. Ich bin sicher, dass dem Josef im fremden Land Wohnung und Arbeit nicht verweigert wurde.   


Und das Gottesvolk insgesamt wird im Buch Exodus ermahnt, Fremde bei sich nicht zu unterdrücken. Es wird daran erinnert, dass sie doch selber Fremde in Ägypten gewesen seien, dass sie also wissen müssten, was es heißt, der Würde und des Rechts beraubt zu sein. Aber, so höre ich einen weiteren Einwand, die Asylbewerber bekommen doch, was sie brauchen. Sie haben eine Unterkunft, sie werden verpflegt, sie können alle Rechtsmittel ausschöpfen. Jetzt, so sagte uns gestern ein Anrufer, jetzt dürfen die sogar noch demonstrieren!   


Aber der Mensch lebt eben nicht vom eine Woche alten Weißbrot allein. Er lebt auch davon, dass ihm als Ebenbild Gottes das Recht, Bekanntschaften zu schließen, heimisch zu werden, für seinen Unterhalt selbst zu sorgen, arbeiten zu können, er lebt davon, dass die Rechte, die er hat, ihm auch zuerkannt werden. Für uns ist es selbstverständlich, dass wir diese Rechte alle in Anspruch nehmen. Aber warum meinen wir eigentlich, sie seien unser Besitz, den wir uns erworben hätten und nun gegen andere verteidigen müssten? Was können wir dafür, dass wir in dieses Land und in diese Generation hineingeboren sind? Womit haben wir es verdient, Bürger eines der reichsten Länder dieser Erde zu sein? Ich halte es für verhängnisvoll, dass wir, auch wir Christen, weithin vergessen haben: Alles, was wir sind und haben, das hat Gott, der Schöpfer, uns anvertraut. Das ist nicht willkürlich verfügbarer Besitz, das ist Leihgabe Gottes an uns. Und Gott, dem Schöpfer der Welt und aller Menschen gegenüber sind wir verantwortlich dafür, wie wir mit den uns anvertrauten Gütern umgehen. Ob wir sie in unseren Mauern horten, bis wir daran ersticken, oder ob wir sie mit denen teilen, die dringend darauf angewiesen sind.   


Für das Alte Testament ist es selbstverständlich, dass z.B. das Gut, arbeiten zu können, geteilt wird. Im Feiertagsgebot heißt es an einer Stelle: Am 7. Tag sollst du keine Arbeit tun, auch nicht der Fremde, der in deiner Stadt wohnt. Der sinnvoll aufeinander bezogene Wechsel von Arbeit und Ruhe ist ein wichtiges Element menschenwürdigen Lebens. Ohne Ruhe wird die Arbeit zu einem Sklaventreiber. Und ohne Arbeit führt die Ruhe zu Depression und Verzweiflung. Die Asylbewerber werden mit dem Recht auf Arbeit auch dieses wesentlichen Elementes menschlicher Würde beraubt.   

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass bei uns ein neuer, ein geschwisterlicher Geist einzieht. Es wäre ein Geist, den ich von Gott selbst erwarte. Ein Geist, der sich nicht hinter Paragraphen und Rechtspositionen verschanzt, sondern der unsere Herzen verwandelt. Wo dieser Geist einzieht, so sagt es Paulus, da ist Freiheit. Da verlieren Mauern ihr Recht. Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. Danke.

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